Kriegskind, DEFA-Mitarbeiterin, Restaurantmanagerin im Drachenhaus, Zentrum der Familie: Ingrid erzählt aus einem bewegten Leben

Die Geschichte von Ingrid umfasst 85 Jahre. Mehr als 60 hat sie in Potsdam verbracht, die meiste Zeit davon in Bornstedt. Wenn sie daran denkt, wie sehr sich der Stadtteil in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat, kann sie es manchmal kaum fassen. Deshalb bezeichnet sie sich scherzhaft als „einen der letzten Ureinwohner Bornstedts“.
Ingrid trifft sich mit ihrem Besuch in der gemütlichen Wohnküche ihres Hauses. Vor ihr steht ein Karton randvoll mit Erinnerungen. Darin Magazine und Flyer über Potsdam, persönliche Fotobücher und ein altes Titelblatt der Potsdamer Neuesten Nachrichten. Das große Foto darauf zeigt Ingrid mit einer Gruppe von Anwohnenden der Potsdamer Straße. Gemeinsam haben sie sich 2007 für eine neue Asphaltdecke eingesetzt – mit Erfolg. Der erneuerte Straßenbelag schränkte zwar nicht den ausufernden Verkehr auf der Straße ein, die Ingrid die „Bornstedter Autobahn“ nennt. Aber zumindest wurde der Lärm etwas gedämmt.
Diese Initiative ist typisch für Ingrid: Wenn sich das Leben um sie herum verändert, geht sie mit. Vieles findet sie gut: die Bebauung auf dem Bornstedter Feld, ihre Nachbarschaft, die mittlerweile aus vielen Zugezogenen besteht, den Wiederaufbau des Potsdamer Alten Markts nach historischem Vorbild. Und was sie nicht gut findet, versucht sie zu ändern. Das Alter und eine Herzschwäche haben ihr zwar etwas von ihrer Kraft genommen, jedoch nicht ihre anpackende, resolute Art und ihren Optimismus.

Ingrid mit Fotobüchern in der Wohnküche

Zeitungsartikel aus den PNN von 2007. Ganz rechts auf dem Foto steht Ingrid
Eine Liebe fürs Leben
Wilfried hieß der Mann, der Ingrid nach Bornstedt brachte. 64 Jahre lang waren Wilfried und Ingrid glücklich verheiratet, bis Wilfried vor zwei Jahren starb. „Zur Goldenen Hochzeit haben wir unser Eheversprechen in der Bornstedter Kirche erneuert und uns gesagt, dass wir uns noch einmal heiraten würden“, sagt die 85-Jährige und lächelt liebevoll. „Wilfried war ein sehr kluger Mensch, ich habe viel von ihm gelernt. Er war auch sehr verständnisvoll. Und er hat mich abgöttisch geliebt – so wie ich ihn auch.“

Goldene Hochzeit in der Bornstedter Kirche
Das Haus an der Potsdamer Straße, in dem Ingrid wohnt, stammt aus dem Besitz von Wilfrieds Familie. „1920 hat Wilfrieds Opa Friedrich hier zwei Grundstücke gekauft und das Haus gebaut. Da war es noch richtig idyllisch hier. Viel Wald, überall Obstplantagen, die Straße nicht so befahren.“ In der Mitte der heutigen Bundesstraße 273 habe es noch einen Grünstreifen gegeben und am Rand „den Reitweg vom Kaiser“, erzählt sie.
Viel weiß Ingrid aus eigener Anschauung, viel aus Erzählungen, viel durch eigene Nachforschungen. Nach ihrer Verlobung mit Wilfried Ende der 1950er Jahre zog auch sie in das Haus und brachte sich voll in die Familie ein. Sie lernte Opa Friedrich kennen, Wilfrieds Bruder und die Eltern Willi und Agnes. Der Opa wohnte im Erdgeschoss, die vierköpfige Familie im Obergeschoss. „Das Haus war immer voll, manchmal kam auch noch Verwandtschaft dazu“, sagt sie. Es war ein ganz anderes Leben als das, was die junge Ingrid bisher gekannt hatte.
Aufgewachsen als Kriegskind
Anders als Wilfried war Ingrid nicht im Schutz einer fürsorglichen Familie aufgewachsen. 1940 in Berlin geboren, verbrachte Ingrid ihre ersten Lebensjahre in Friedrichshain und erlebte die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs an der eigenen Haut. „Meine Mutter kam in einer Bombennacht in Berlin um, mein Vater geriet ins Konzentrationslager“, erzählt Ingrid.
Nach dem Krieg habe der Vater, ein aus Kiew stammender Ingenieur, als Dolmetscher für das russische Militär gearbeitet. „Wir zogen immer dorthin, wo mein Vater gebraucht wurde“, erzählt Ingrid. „Das war nicht schön für mich.“ Zudem habe sie unter ihrer Stiefmutter gelitten: Diese habe sie seelisch und körperlich misshandelt. Zu ihrer engsten Bezugsperson wurde ihre Oma Elisabeth in Sachsen-Anhalt.
„Sie war mein Schatz, sie war wunderbar zu mir“, schwärmt Ingrid. 106 Jahre alt sei die Oma geworden und ein „zähes Menschenkind“ gewesen. Dieses Erbteil erkennt Ingrid auch in sich selbst. Doch es war ihr Mann Wilfried, der ihr die Stärke gab, zu wachsen und sich zu entfalten. „Er war meine Stütze, meine Seele“ sagt Ingrid. „Ich vermisse ihn sehr.“

Ingrid und Wilfried im Bornstedter Garten in den 1960er Jahren
Zwischen Film-Business und Familie
Ingrid greift nach einem Fotobuch. Darin hat ihre Schwiegertochter die schönsten Bilder von Ingrids Leben für diese zusammengefasst. Die meisten zeigen die Familie, zunächst in Schwarz-Weiß, später in Farbe – und vor allem Wilfried und Ingrid als Paar.
Die beiden trafen sich 1959 zum ersten Mal, da war Ingrid gerade einmal 19 Jahre alt. Ingrids Stiefmutter hatte Wilfried bei einer Erwachsenenqualifizierungsmaßnahme für den Einzelhandel kennengelernt. Aus dem Gefühl heraus, dass die beiden sich gut verstehen würden, arrangierte sie auf einer Feier ein Zusammentreffen. „Das immerhin hat meine Stiefmutter gut hinbekommen“, sagt Ingrid.
Ingrid lebte damals bereits in Potsdam, in der Nähe des Neuen Gartens. Sie machte eine Ausbildung zur Friseurin. Sie habe im Salon Utterstein am Jägertor gelernt, nach der Lehre auch in Wannsee und Zehlendorf gearbeitet, „da war die Grenze ja noch offen“. Sie erinnert sich auch an Färbekurse am Kurfürstendamm. Ihre leuchtenden Augen zeigen, dass es eine gute Zeit war. Wohl auch, weil Wilfrieds Familie in Bornstedt sie nach der Verlobung und der Hochzeit so herzlich in ihren Kreis und ihr Haus aufnahm.
1964 ging Ingrids großer Wunsch in Erfüllung: Ein Sohn wurde geboren. Mit Begeisterung widmete sich Ingrid dem Kind und arbeitete zudem als Komparsin und Maskenbildnerin bei der DEFA. „Dafür musste ich aber viel unterwegs sein, wir drehten ja sogar in Jugoslawien“, erzählt Ingrid. „Das wurde zu viel, daher ging ich dann wieder als Friseuse.“ Ihr Mann Wilfried führte unterdessen einen Lebensmittelladen in der Leninallee, der heutigen Zeppelinstraße.
Sie führten die Gaststätte Katharinenholz und das Drachenhaus
Bald wurden Ingrid und Wilfried auch beruflich ein Team. Über einen Job an der Garderobe war Ingrid in die Gaststätte Katharinenholz an der Potsdamer Straße gekommen, heute das griechische Restaurant „Theo & Logos“. Die Gastronomie faszinierte sie. „Die Büffets dort waren fantastisch: so viele Farben, das war wie Malen, das war Kunst!“ Ingrid beschloss, in die Küche zu wechseln und sich zur Köchin ausbilden zu lassen – über eine Erwachsenenqualifizierung im Interhotel, dem heutigen Hotel Mercure.
In den 1970er Jahren übernahm Ingrid gemeinsam mit ihrem Mann Wilfried die Gaststätte Katharinenholz und führte sie sechs Jahre lang. Dann wechselten sie gemeinsam ins Drachenhaus. „Das haben wir sieben Jahre lang gemacht, bis in die 80er Jahre“, erzählt Ingrid. Die beiden entwickelten großen Ehrgeiz – nicht nur in der Küche, sondern auch bei der Instandhaltung des architektonischen Juwels von 1770. „Es war damals etwas heruntergekommen“, sagt Ingrid. Kurzentschlossen nahm sie die Sache in die Hand.
Bei der Verwaltung kämpfte sie um dringend notwendige Ausbesserungen. „Das war nicht einfach, vieles war in der DDR ja Mangelware“, sagt sie. „Aber ich hab‘ die Handwerker kulinarisch verwöhnt, und so haben wir alles ganz gekriegt“, sagt Ingrid schmunzelnd.

Das Drachenhaus im Park Sanssouci
In der Gartenlaube hat sie ein kleines Atelier
Die Wende stellte für Ingrid einen harten Einschnitt da. Mit dem neuen Chef kam sie nicht klar, zudem wurde sie schwer krank und musste 1994 an der Schilddrüse operiert werden. „Ich bin zehn Jahre damit gelaufen, obwohl es mir schon lange schlecht ging. Ich hätte sterben können“, sagt sie im Rückblick nachdenklich.
Nach ihrer Genesung konzentrierte sich Ingrid auf die inzwischen drei Enkelkinder – und auf das Haus in Bornstedt. Schon Jahrzehnte zuvor hatte sie die Erweiterung um ein Bad, ein Kinderzimmer und eine Veranda gemanagt. Jetzt plante sie die Renovierung und setzte alles tatkräftig mit um. „Auch das Haus meiner Oma im Harz, das 1640 erbaut wurde, haben wir auf Vordermann gebracht“, sagt sie. Es dient der Familie bis heute als Urlaubsdomizil.
Und endlich fand Ingrid auch Zeit für Hobbies. In einer Reha-Maßnahme lernte sie Töpfern, Malen und die Arbeit mit Speckstein kennen. Sie entdeckte, wieviel Spaß sie am kreativen Tun hat und wieviel Talent sie besitzt. In der winterfesten Laube im Garten hat sich Ingrid ein kleines Atelier eingerichtet. Dort malt sie regelmäßig. Ihr Lieblingsmotiv: Ansichten von Potsdam.

Ingrid mit Skizze in ihrem Atelier
Stolz und zutiefst dankbar
„Ich sehe, was gemacht werden muss“: Das bezeichnet Ingrid selbst als ihr größtes Talent. Daher sei sie es gewesen, die in der Familie in Bornstedt immer alles organisiert habe. Sie wirkt ein bisschen stolz und zugleich sehr dankbar. Vor allem dafür, dass ihr Mann Wilfried sie immer voller Liebe unterstützt hat. Und dass sie von der ganzen Familie sehr viel zurückbekommt – bis heute.
Ingrid ist nicht mehr ganz gesund. Sie hat Pflegestufe drei, ihre Mobilität ist eingeschränkt, professionelle Pflegekräfte unterstützen sie täglich. Doch am Wichtigsten ist Ingrid der Rückhalt der Familie. „Ich habe eine wundervolle Schwiegertochter, die nach mir schaut und sich kümmert“, sagt sie. Sie wohne mit ihrem Sohn und den Enkelkindern nur ein paar Häuser entfernt. Auch die übrige Verwandtschaft ist nicht weit.
In Bornstedt hat das Mädchen aus Berlin seine Heimat gefunden. Etwas Besseres kann sich Ingrid gar nicht vorstellen. „In Potsdam ist ‘ne besondere Luft“, sagt sie und lacht. „Man war hier schon immer was ganz Besonderes. Hier war ja schließlich auch der Kaiser.“
Text: Beatrix Fricke
November 2025
